Die Nachfrage nach Bahnreisen in Europa wird im kommenden Jahrzehnt deutlich steigen, so eine Analyse, die auf eine „neue Wertschätzung“ der Öffentlichkeit für saubere Luft und Klimaschutz als Folge des Coronavirus-Ausbruchs hinweist. Die Fluggesellschaften dürften die Hauptverlierer sein.
Die Anti-Coronavirus-Maßnahmen haben den Schienen-, See-, Straßen- und Luftverkehr in ganz Europa eingeschränkt. Insbesondere die Fluggesellschaften befinden sich im Kampf ums Überleben.
Derweil haben ein leerer Luftraum und weitgehend leere Autobahnen zu saubererer Luft geführt. Es werden bereits Debatten darüber geführt, ob die Regierungen tatsächlich öffentliche Gelder zur Rettung der umweltschädlichsten Verkehrsarten einsetzen sollten.
Laut einer neuen Analyse von UBS Research könnte sich die gegenwärtige Krise als ein Segen für den europäischen Bahnmarkt erweisen. Dieser werde im aktuellen Jahrzehnt jedes Jahr um zehn Prozent wachsen.
Das Schweizer Unternehmen prognostiziert weiter, dass die Marktpotenziale des Sektors bis 2022 auf elf Milliarden Euro anwachsen werden. Durch das Nachfragewachstum dürften auch mehr Züge sowie umfassende Anpassungen der Infrastruktur wie Signalanlagen oder neue Gleise erforderlich werden.
„Unserer Ansicht nach nimmt die politische Unterstützung für Investitionen in die Schieneninfrastruktur deutlich zu, auch unterstützt durch niedrigere Finanzierungskosten,“ wird in der UBS-Analyse hervorgehoben.
Ebenso scheint die Unterstützung der allgemeinen Öffentlichkeit zu wachsen: Die Bahnbetreiber haben als Reaktion auf die steigende Nachfrage mit der Wiedereinführung von Nachtzugdiensten begonnen. Die Bereitschaft und Toleranz für längere Fahrten nimmt Berichten zufolge ebenfalls zu: Geschäftsreisende würden eine Reise von vier Stunden in Kauf nehmen, so die UBS-Daten, während Freizeitreisende sechs Stunden tolerieren.
In der Analyse wird die internationale Strecke London-Paris als Paradebeispiel angeführt: Die Bahn könne dort aufgrund ihrer innerstädtischen Abfahrts- und Ankunftsorte und der relativ kurzen Wartezeiten gegen den Luftverkehr deutlich punkten – und siegen.
„Jahr der Schiene“ 2021
Die Europäische Kommission hatte schon im März erklärt, 2021 solle als Teil des neuen Green Deal der EU zum „Europäischen Jahr der Schiene“ werden. Dabei wurde insbesondere der Erfolg des Verkehrsträgers bei der Reduzierung von Emissionen bei gleichzeitiger Erhaltung des Wachstums angeführt.
„Es besteht kein Zweifel, dass der Schienenverkehr in den meisten Bereichen enorme Vorteile bietet – Nachhaltigkeit, Sicherheit und auch Geschwindigkeit – sofern er nach den Standards des 21. Jahrhunderts organisiert und gestaltet wird,“ zeigte sich die EU-Verkehrskommissarin Adina Vălean zuversichtlich.
„Liberalisierung“ als Chance?
Bedeutende Veränderungen zeichnen sich im europäischen Bahnsektor ab: Ende 2020 werden Frankreichs und Spaniens staatliche Eisenbahngesellschaften (SNCF und Renfe) ihre langjährigen Monopole auf Inlandsstrecken verlieren; die Marktliberalisierung beginnt. Laut dem UBS-Bericht „dürfte die Liberalisierung die Frequenz und Erschwinglichkeit verbessern. 2019 und 2020 markieren einen Wendepunkt für die Branche.“
Frankreich und Spanien könnten – zusammen mit Italien und Deutschland – im nächsten Jahrzehnt bis zu 800 neue Hochgeschwindigkeitszüge bauen, was bis zu 60 Milliarden Euro kosten dürfte. Allein die Bundesrepublik wird in den kommenden zehn Jahren darüber hinaus mehr als 80 Milliarden Euro in ihr Netz investieren.
Die SNCF will im Jahr 2023 neue Versionen ihres TGV-Hochgeschwindigkeitzuges auf den Markt bringen, mit doppelstöckigen Wagen, die mehr Menschen befördern können. Die Kosten pro Einheit des neuen Modells seien ebenfalls gesunken, so dass inzwischen mit einer neuen Flotte von bis zu 100 Fahrzeugen gerechnet werden könne.
Kommissarin Vălean betonte im Gespräch mit EURACTIV.com, sie würde sich vor allem wünschen, dass die Regierungen der EU-Staaten nun die Regeln des vierten Eisenbahnpakets der EU umsetzen, „was noch nicht der Fall ist und was ich dieses Jahr sehr gerne weiterverfolgen würde“.
Die Verkehrskommissarin sagte auch, es wäre erfreulich, wenn der nächste langfristige Haushalt der EU (der MFR) „dazu verwendet würde, den Schwerpunkt auf die Schiene zu legen“, indem Investitionsinstrumente wie die Fazilität „Connecting Europe“ gefördert würden.
Zug vs. Flug
Hochgeschwindigkeitszugverbindungen haben in den letzten Jahren bemerkenswerte Zugewinne gegenüber Kurzstreckenflügen verzeichnen können. Die Über- bzw. Unterquerung des Ärmelkanals per Eurostar hat die Nachfrage nach Flugreisen zwischen London und Paris mehr als halbiert, teilte das Unternehmen 2019 mit.
Eine neue Verbindung zwischen der britischen Hauptstadt und Amsterdam – die eigentlich noch in diesem Monat eingeführt werden soll, aber wegen der Pandemie de facto verspätet startet – soll ähnliche Effekte haben. Die Strecke kann unter dem Zeitfenster von vier Stunden, das laut den Analysten Bahnreisen begünstigt, absolviert werden.
Die französische SNCF hat sich im vergangenen Jahr auch verstärkt mit ihren italienischen und schweizerischen Partnern verbündet, um Boden gegenüber Kurzstreckenflüge in und aus der Schweiz gut zu machen.
Die Daten der UBS deuten darauf hin, dass das weltweite Wachstum im Flugverkehr in den kommenden zehn Jahren auf „nur“ noch 4,6 Prozent pro Jahr zurückgehen wird. Vor dem Ausbruch des Coronavirus war ein Anstieg von 5,1 Prozent prognostiziert worden.
Innerhalb Europas könnte das Wachstum stagnieren oder sogar zurückgehen: Die Studie hebt mehrfach die Auswirkungen hervor, die der Schienenverkehr bereits auf den Routen London-Paris, Madrid-Barcelona und München-Berlin hat sowie auf neu geplanten Hochgeschwindigkeitsstrecken wie Paris-Toulouse und Berlin-Köln haben wird.
Erreicht die Flugindustrie ihre Emissionsziele?
Ein umfassenderes und effizienteres Schienennetz könnte die Fluggesellschaften ihrerseits dazu veranlassen, sich stärker auf Langstreckenverbindungen – oder Kurzstreckenflüge, die außerhalb des Vier-Stunden-Fensters der Bahn liegen – konzentrieren oder Gebiete bedienen, die für Hochgeschwindigkeitszüge nicht gut erreichbar sind.
Die Branche dürfte dann auch bessere Aussichten haben, ihre selbst gesteckten Emissionssenkungsziele zu erreichen. Diese schienen bisher nahezu unerreichbar.
2010 hatte die UN-Luftfahrtbehörde ICAO einer jährlichen Verbesserung der Treibstoffeffizienz um zwei Prozent und einem „CO2-neutralen Wachstum“ ab 2020 zugestimmt. Nach Angaben der Industrie liegen die aktuellen Einsparungen jedoch eher in der Größenordnung von 0,8 Prozent. Nach neuesten Schätzungen werden sie in diesem Jahrzehnt nur auf 1,3 Prozent ansteigen.
Indes soll das neue Kompensationssystem der ICAO mit dem Namen CORSIA nächstes Jahr in eine Testphase eintreten. Unternehmen werden sich dann in Erneuerbare-Energieprogramme und andere emissionssenkende Projekte einkaufen müssen, wenn sie ihre Zielvorgaben übertreffen.
Bisher war bei CORSIA beabsichtigt worden, die Jahre 2019 und 2020 als Basis für die Messung der Emissionseinsparungen zu verwenden. Da aufgrund des Coronavirus nun auch für den Rest des Jahres enorme Einbrüche bei den Flügen erwartet werden, fordert die Branche bereits, nur die Statistiken aus 2019 – und nicht die gegenwärtig niedrigen Emissionswerte – zu verwenden.
Würde hingegen das Krisenjahr 2020 in die Berechnungen einbezogen, müssten die Airlines deutlich mehr Mittel aufwenden, um ihre Emissionen zu kompensieren. Die ICAO will im Sommer zusammentreten und dieses Thema diskutieren.
[Bearbeitet von Benjamin Fox und Tim Steins]