This article is part of our special report Mit Volldampf in den Herbst? So geht’s in der EU nach der Sommerpause weiter.
Die Europäische Kommission dürfte im kommenden Monat Vorschläge vorlegen, mit denen das Klimaziel der EU für 2030 angehoben würde. Es gibt allerdings bereits Bedenken aus einigen Mitgliedstaaten. Sie warnen, man müsse angesichts der Coronavirus-Pandemie vor allem Arbeitsplätze und Wachstum sichern.
Eine ebenfalls im September fällige Folgenabschätzung wird Kosten und Nutzen einer Anhebung der Klimaziele der EU für 2030 bewerten – in Übereinstimmung mit dem übergeordneten Ziel des Blocks, die Emissionen bis Mitte des Jahrhunderts auf einen Wert von „Netto-Null“ zu senken.
„Wir arbeiten sowohl an der Folgenabschätzung als auch an dem neuen Vorschlag, die beide im September vorgelegt werden sollen,“ bestätigte die EU-Kommissionssprecherin Vivian Loonela. Ziel sei es bis 2030 in jedem Fall, die Treibhausgasemissionen der EU auf „mindestens 50 Prozent“ unter das Niveau von 1990 „und in Richtung 55 Prozent“ zu reduzieren, sagte Loonela am Dienstag (18. August) bei einer Pressekonferenz.
Die Kosten-Nutzen-Studie der Kommission wird von den EU-Mitgliedstaaten intensiv geprüft werden. In den Hauptstädten ist man angesichts der befürchteten wirtschaftlichen Belastung durch höhere Klimaziele in einer Zeit, in der die Coronavirus-Krise die EU-Wirtschaft ohnehin bereits in eine Rezession gedrückt hat, vorsichtig und zurückhaltend.
Während für einige Industriezweige – wie erneuerbare Energien oder Bauwesen – ein Wachstum erwartet wird, würden einige andere wie Öl, Gas und Kohle „sinken“, während wieder andere wie der Automobilsektor „sich wahrscheinlich verändern werden“, räumte die Kommission in einer im März veröffentlichten vorläufigen Analyse ein.
Auf der Grundlage der vollständigen Studie – die voraussichtlich mehrere hundert Seiten umfassen wird – wird die EU-Exekutive dann entscheiden, ob sie ein EU-weites Emissionsreduktionsziel von 50 oder doch 55 Prozent bis 2030 vorschlagen wird – gegenüber derzeit 40 Prozent.
Aktualisierte Klimaziele sind das Kernstück der Flaggschiff-Initiative „Green Deal“ der Kommission und eine zentrale politische Verpflichtung ihrer Präsidentin Ursula von der Leyen. Diese hatte den Green Deal bei ihrem Amtsantritt im Dezember 2019 als „neue Wachstumsstrategie Europas“ bezeichnet.
50 oder 55?
Welche unterschiedlichen Auswirkungen würden die 50- oder 55-Prozent-Ziele jedoch in der Realität auf das Klima und die EU-Wirtschaft haben?
Aus Sicht von Georg Zachmann vom Brüsseler Wirtschafts-Think-Tank Bruegel wäre der Effekt groß: „Die zusätzlichen fünf [Prozentunkte] bei der Emissionsreduzierung entsprechen etwa 280 Mt im Jahr 2030.“ Dies entspräche den Emissionen aller Braunkohlekraftwerke oder mehr als einem Viertel der verkehrsbedingten Emissionen der EU im Jahr 2019, so Zachmann.
Dementsprechend würde eine Anhebung auf 55 statt 50 Prozent „substanzielle Bemühungen erfordern“, teilte er gegenüber EURACTIV.com mit.
Gerade für östliche EU-Staaten könnte sich das höhere Ziel als eine große Herausforderung erweisen: Viele von ihnen setzen nach wie vor stark auf traditionelle, umweltverschmutzende Industrien und fürchten die sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen, die der grüne Übergang mit sich bringen dürfte.
„Vor allem sollte die Folgenabschätzung [der EU-Kommission] realistisch sein,” ließen die Umweltministerinnen und -minister von Bulgarien, Tschechien, Ungarn, Polen, Rumänien und der Slowakei daher bereits verlauten: „Wir möchten eine Situation vermeiden, in der wir uns fragen müssen, was die tatsächlichen sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Kosten für uns alle sind,“ schrieben sie am 13. Juli in einem gemeinsamen Brief an die Kommission.
Kommission will weiterhin 55 Prozent
Die Kommission scheint (bisher) hingegen gewillt, sich für das ehrgeizigere Ziel einzusetzen.
Der EU-Klimachef Frans Timmermans sagte bereits während seiner Anhörung durch das EU-Parlament im Oktober, ihn würde es „überraschen“, wenn nach der Folgenabschätzung der Kommission nicht die 55-Prozent-Option empfohlen werde.
Ein 55-Prozent-Ziel scheint indes auch der politische Konsens im Europäischen Parlament zu sein, das gleichberechtigt mit den 27 EU-Mitgliedsstaaten ein volles Mitspracherecht über das Klimaziel der EU für 2030 haben wird.
Derweil würde das niedrigere Klimaziel für 2030 gleichzeitig auch striktere Emissionssenkungen im folgenden Zeitraum erfordern, damit das EU-Ziel von „Netto-Null Emissionen bis 2050“ noch erreicht werden kann. Das machte die Kommission schon in ihrer Analyse vom März deutlich und plädierte daher für „einen ausgewogeneren Reduktionspfad von 2020 bis 2050“, um „die Übergangsbemühungen zeitlich zu verteilen“.
Die EU-Exekutive argumentiert weiter, eine Verzögerung der Klimabemühungen werde auch negative wirtschaftliche Effekte für nachfolgende Generationen nach sich ziehen: „Wenn wir jetzt nicht auf die Klimakrise reagieren, würde dies bedeuten, dass ein späteres Handeln noch viel teurer werden würde,“ warnte Kommissionssprecherin Loonela.
Kosten des Nicht-Handelns
Fürsprecher eines ehrgeizigeren Klimaschutzes weisen ihrerseits jedoch darauf hin, dass wohl auch ein 55-Prozent-Ziel nicht ausreichen würde, um die EU in Einklang mit dem Pariser Abkommen zu bringen, wonach die globale Erwärmung auf maximal 2°C begrenzt und bestenfalls ein Temperaturanstieg von 1,5°C angestrebt werden soll.
Die Begrenzung der Erwärmung auf 1,5°C würde aber „entweder ein 60- oder 65-Prozent-Ziel bis 2030 erfordern – oder eben eine viel schnellere Reduzierung danach“, erklärte Mirjam Wolfrum von der Organisation CDP Europe.
Ein höheres Ziel für 2030 könnte laut Wolfrum auch Kosten durch klimabedingte Katastrophen wie Stürme, Überschwemmungen und Hitzewellen in Höhe von Billionen Euro verhindern: „Zusätzliche 0,5°C Erderwärmung wären katastrophal. Dies würde die Weltwirtschaft bis zu 15 Billionen Dollar an zusätzlichen Klima-Effekten kosten, weitere 10 cm Meeresspiegelanstieg bedeuten, sowie die Wahrscheinlichkeit eines eisfreien Meeres in der Arktis im Sommer um den Faktor 10 erhöhen.“
„Die Festlegung des Ziels für 2030 auf die richtige Höhe wird grundlegende Auswirkungen auf unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft haben,“ schrieb sie dementsprechend in einem Meinungsbeitrag für EURACTIV.com.
Dennoch werden sich wohl alle EU-Länder angesichts der Kosten des „grünen Übergangs“ zurückhaltend geben – nicht zuletzt aufgrund der aktuellen Lage, in der die EU wegen der durch das Coronavirus ausgelösten Krise voraussichtlich in die tiefste Rezession ihrer Geschichte schlittern wird.
„Die Prioritäten der Staats- und Regierungschefs haben sich eindeutig auf den Umgang mit COVID-19 verlagert. Das macht einen ehrgeizigen Klima-Kompromiss weniger wahrscheinlich,“ erwartet auch Zachmann von Bruegel. „Selbst Länder wie Deutschland, die sich öffentlich zu ehrgeizigeren europäischen [Klimazielen] bekennen, werden nicht bedingungslos für diese Ziele kämpfen.“
Aus Zachmanns Sicht werden die Auswirkungen in Bezug auf Arbeitsplätze und Wachstum jedoch weitgehend von den politischen Maßnahmen abhängen, die in mehreren Bereichen zur Anwendung kommen dürften: „Für einen Kompromiss könnte die Frage, wie die Anstrengungen unter den Mitgliedsstaaten aufgeteilt werden, daher wichtiger sein als die letztendliche Höhe des Ziels.“
[Bearbeitet von Tim Steins]