Grüner EU-Abgeordneter: Nord Stream 2 ist die „größte Fehlleistung“ der EU

Claude Turmes (zweiter von rechts) auf der EurActory40-Veranstaltung in Brüssel. [Georgi Gotev]

Claude Turmes, führendes Mitglied der Grünen-Fraktion im EU-Parlament, übt scharfe Kritik an den Gazprom-Taktiken zur Unterstützung des Nord-Stream-2-Projekts, welches er als energiepolitisch „größte Fehlleistung“ der EU bezeichnet. EURACTIV Brüssel berichtet.

Gazprom habe fünf Unternehmen, die ebenfalls in Nord Stream 2 investieren, vorgeschrieben, ihr Gas nicht länger durch die Ukraine zu leiten, so der luxemburgische EU-Abgeordnete Claude Turmes (die Grünen) auf einer EURACTIV-Veranstaltung in Brüssel am 24. Januar. Dieser Transitstopp sei eine Bedingung dafür gewesen, das Projekt an Land zu ziehen. „Gazprom setzt Shell, Wingas [eine von Gazprom gehaltene Tochtergesellschaft von Wintershall] und Engie unter Druck, kein Gas durch die Ukraine zu transportieren“, kritisiert er. „Und dann erzählt mir die Kommission, dies sei ein geschäftliches Projekt. Es ist Lobby-effizienter, russischer Machiavellismus – ein politisches Projekt, das Europa spalten soll.“

Turmes sprach auf einer von EURACTIV organisierten Konferenz im EU-Parlament. Zweck der Veranstaltung war die Veröffentlichung des EurActory40-Rankings, einer Rangliste der 40 einflussreichsten Experten in der Energiepolitik der EU. Unter den Gästen befanden sich Vizekommissionspräsident Maroš Šefčovič, zuständig für die Energieunion, sowie der ehemalige EU-Parlamentspräsident Jerzy Buzek – jeweils Platz 1 beziehungsweise 3 im EurActory-Ranking. Den zweiten Platz belegt Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Nord Stream ist eine Ostsee-Gasleitung, die Deutschland direkt mit Russland verbindet und so die Ukraine umgeht. Die EU-Kommission kritisierte das Projekt anfangs, da es den Zielen der Energieunion entgegenwirke. Deutschland hingegen unterstützt Nord Stream 2. Das Projekt entzweit die EU zunehmend, seitdem im September letzten Jahres ein Rahmenvertrag mit dem russischen Gasexportmonopol Gazprom unterzeichnet wurde. Ziel der Gasleitung unter der Ostsee ist es, zusätzliche 55 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr von Russland nach Deutschland zu transportieren. Zu 50 Prozent liegt das Projekt in den Händen Gazproms. BASF, E.On, Engie, OMV und Shell verfügen jeweils über einen zehnprozentigen Anteil.

Mitteleuropäische Länder sorgen sich, dass Nord Stream Russland die Möglichkeit biete, seine größte Gasleitung durch die Ukraine – den Ukraine-Korridor – stillzulegen. Durch diesen werden pro Jahr etwa 140 Milliarden Kubikmeter an Gas geleitet. Somit würden der Ukraine wichtige Einnahmen aus Transitgebühren verloren gehen. Diese belaufen sich im Jahr auf zwei Milliarden Euro.

Nur ein Telefonanruf

Nord Stream 2 ist Turmes zufolge energiepolitisch die „größte Fehlleistung“ der EU. Die Projektzustimmung der Kommission „hat Nummer 2 [Angela Merkel| nur einen Anruf bei der Nummer 1 der Kommission gekostet – nicht etwa bei Herrn Juncker, sondern Herrn Selmayr“, urteilt der Abgeordnete mit Blick auf die EurActory40. Martin Selmayr aus Deutschland ist Kabinettschef des Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker.

Dieser eine Anruf habe ausgereicht, um Šefčovičs Ansichten zu Nord Stream komplett umzukehren, erklärt Turmes und verweist damit auf die anfängliche Skepsis der Kommission. Nach dem Telefongespräch sei schließlich auch der Energiekommissar Miguel Arias Cañete eingeknickt. Außerdem habe der Juristische Dienst der Kommission ein Dokument ausgestellt, das Deutschland einen Freifahrtschein für Nord Stream erteile. „Das ist ein härter Schlag für die Energieunion“, wiederholt der grüne Abgeordnete. „Wenn die Kommission nicht stark genug ist, sich gegen die einseitigen Interessen Deutschlands zu stellen, wird das schwere Folgen haben.“

Das Ende der Ukraine

„Wo liegt da die Konsistenz, wenn wir einerseits Milliarden in die Ukraine stecken, gleichzeitig aber Russland gestatten, dem Land durch das Nord-Stream-Projekt den Garaus zu machen? Ich sehe einfach keine Konsistenz in der Haltung der Kommission“, fügt Turmes hinzu. Er warnt, das Parlament würde nicht zögern, diesbezüglich Sanktionen gegen die Kommission zu verhängen.

Šefčovič verließ die Veranstaltung noch ehe Turmes zu Wort kam. Daher war es ihm nicht möglich, auf die Vorwürfe des Abgeordneten zu antworten.

Für die Verbraucher in der EU könnte russisches Nord-Stream-2-Gas sogar teurer werden als durch die Ukraine geleitetes Gas, warnt Viacheslav Kniazhnytski, Direktor des Brüsseler Büros des ukrainischen Gasversorgers Naftogaz. Das Gas, das in der ukrainischen Stadt Uzhgorod nahe der slowakischen Grenze ankommt, habe einen festen Preis, so Kniazhnytski. Seine Frage: Wenn es stattdessen aber über Deutschland ankäme, wer zahlt dann die Transportkosten nach Deutschland und den Weitertransport durch Tschechien bis zum Erdgasknotenpunkt Baumgarten in der nähe von Wien?

Russland behauptet ihm zufolge, es könne Europa Erdgas zu einem niedrigeren Preis bieten als die USA mit ihrem verflüssigten Erdgas (LNG). Dennoch verliere es kein Wort über die Transportkosten. In dieser Hinsicht seien die Vorteile des ukrainischen Systems „herausragend“.

„Ziemlich aufhetzend“

Turmes solle erst einmal Beweise für seine Behauptungen vorlegen, drängt Brian Ricketts vom Kohlelobby-Verband Euracoal. Er bezeichnet die Äußerungen des Grünen als „ziemlich aufhetzend“. Turmes weigert sich jedoch, seine Quellen bekannt zu geben. „Sie wissen, dass ich in der Regel sehr gut informiert bin“, erklärt er nur.

Kritik an Deutschland und dem Nord-Stream-2-Projekt hagelt es auch seitens Jerzy Buzeks, auch wenn er das Land nicht explizit beim Namen nennt. Der polnische Politiker war von 1997 bis 2001 als Premierminister seines Landes tätig. Zusammen mit Jacques Delors gilt er als Gründervater der Energieunion. „Ein Land, ob innerhalb oder außerhalb der EU, kann für einigen Ärger sorgen. […] Der Nord-Stream-Ausbau würde bedeuten, dass wir dem Hauptziel der Energieunion nicht gerecht werden können – nämlich der Diversifizierung“, so Buzek auf der Veranstaltung. Er bereue es, dass eines der Ziele seiner geplanten Energieunion – die gemeinsamen Gasankäufe – von der Kommission nicht im Gesetzentwurf zur Energieunion berücksichtigt würden.

Abonnieren Sie unsere Newsletter

Abonnieren