Berlin fehle der politische Wille, die Energiewende weiter voranzutreiben, so Hans-Josef Fell im Interview mit EURACTIV.com. Fell gilt als einer der „Väter“ des Erneuerbare-Energien-Gesetztes aus dem Jahr 2000.
Bundeskanzlerin Angela Merkel trifft sich am heutigen Dienstag mit den Ministerpräsidenten der vier deutschen Braunkohleabbauländer (Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, NRW) sowie den Leitern der sogenannten Kohleausstiegskommission.
Die Mängel an der deutschen Energiewende sind inzwischen aber deutlich zu erkennen, kritisiert Fell gegenüber EURACTIV: „Die sogenannte Kohlekommission ist kontraproduktiv, da sie die Reduzierung des [privatwirtschaftlichen] Kohleabbaus verzögert.“
Er fügt hinzu: „Klimaschutz bedeutet, die Treibhausgasemissionen auf Null zu reduzieren – was wiederum einen sofortigen Stopp der fossilen Brennstoffe bedeutet. Nur das kann als echter Klimaschutz bezeichnet werden. Dies erfordert jedoch auch politischen Willen.“
Unzufriedenheit mit der Arbeit der „Kohlekommission“
Die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ – auch Kohlekommission genannt – wurde am 6. Juni 2018 von der Bundesregierung eingerichtet, um die Emissionsminderung in Deutschland zu beschleunigen und gleichzeitig einen Fahrplan für einen sozial gerechten Kohleausstieg festzulegen.
Die Kohlekommission sollte ihre Schlussfolgerungen ursprünglich bis Ende 2018 veröffentlichen. Das letzte Treffen wurde inzwischen jedoch auf den 1. Februar verschoben, vor allem wegen Meinungsverschiedenheiten darüber, wie die Übergangsfonds auf die betroffenen Bundesländer verteilt werden sollen.
Der Spiegel berichtete am 5. Januar, Bundeskanzlerin Merkel sei mit der Arbeit der Kohlekommission unzufrieden und wolle nun persönlich Einfluss auf die endgültigen Schlussfolgerungen nehmen.
Dieser Aktionismus könne aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Deutschland in der Vergangenheit zu wenig getan hat, um den Energiewandel voranzutreiben, argumentiert Hans-Josef Fell. Berlin habe es sich „leicht gemacht, ein hochsensibles Thema an andere zu delegieren.“
Fell sehe auch ein Ungleichgewicht von Seiten der Regierung bei der Unterstützung der erneuerbaren Energien einerseits und der Bevorzugung der fossilen Energie-Industrie andererseits. Er kritisiert: „Wo war der Staat, als in den vergangenen Jahren rund 80.000 Arbeitsplätze in der Solarindustrie verloren gingen? Für diese Arbeiter gab es keinen staatlichen Schutz, für sie wurde keine Solarkommission eingerichtet.“
In Wirklichkeit würden Kohle und andere fossile Brennstoffe die Agenda der Regierung in Energie- und Klimafragen weiterhin bestimmen, so der ehemalige Bundestagsabgeordnete.
„Man muss sich nur ansehen, wer die wichtigsten Parteien Deutschlands – die SPD, die CDU und die FDP – finanziert“, so Fell weiter. Es gebe „keine wirklich ehrliche Debatte über Energie, es geht nur um Kohle und andere fossile Industrien.“
Negative Entwicklung
Fell erinnert auch daran, dass die deutsche „Energiewende“ – also der Wandel hin zu einer kohlestoffarmen und atomenergiefreien Wirtschaft – von einer Basisbewegung zu einem „riesigen nationalen Projekt“ gewachsen sei.
Im Mittelpunkt der Energiewende steht das im Jahr 2000 von Fell mitentworfene Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), das Einspeisevergütungen und Netzprioritäten für erneuerbare Energie vorsieht.
Ebenfalls im Jahr 2000 einigten sich die damalige rot-grüne Regierung und die Energieversorger auf den Atomausstieg. Dies führte zu einem allgemeinen Boom der Wind- und Solarenergie in Deutschland bis 2012, erklärt Fell.
„Bis 2012 hat Deutschland beim Ausbau der erneuerbaren Energien und beim Energiewendeprozess sehr, sehr gut abgeschnitten,“ meint der Grünen-Politiker. „Aber dann begann die Bundesregierung, eine Reihe von Gesetzen zu erlassen, die der Energiewende schaden.“ Diese Maßnahmen könne man durchaus als „legale Angriffe“ auf das EEG und die Energiewende ansehen.
Die Angriffe erfolgten beispielsweise in Form von drastischen Kürzungen der garantierten Preise für Solarenergie: „Das kann man tun, wenn eine Branche stark genug ist – aber nicht, wenn sie gerade erst startet.“
2012 folgten dann weitere Reformen bei den Boni-Systemen und Vergütungen für Solarenergie. „Dies geschah als Reaktion auf den Druck der Europäischen Kommission, aber Berlin hat diesen Druck genutzt, um das EEG zu ändern,“ erläutert Fell.
Die Situation in Deutschland sei damals vergleichbar mit Ländern wie Spanien oder Italien gewesen. Die deutschen Unternehmen für erneuerbare Energien hätten keine oder nur geringe Exportmöglichkeiten gehabt und konnten ihre Verluste in Deutschland somit nicht kompensieren.
Darüber hinaus sei in anderen für die Klimapolitik relevanten Sektoren wenig erreicht worden und die „Wende“ habe sich lediglich auf den Stromsektor konzentriert: „In der Automobil- und Baubranche findet keine Wende statt“, bemängelt Fell.
Diese Stagnation in Deutschland stehe im scharfen Gegensatz zu dem, was anderswo auf der Welt passiere: „Nehmen wir zum Beispiel ein Land wie Costa Rica, das seit 2015 bereits rund 100 Prozent seines Stroms aus erneuerbaren Energien gewinnt. Oder das starke Wachstum der erneuerbaren Energien in China und Indien.“
Illusion und Wahrheit
Fell weist auch auf eine „Diskrepanz“ zwischen dem allgemein grünen und klimafreundlichen Images Deutschlands im Ausland und der tatsächlichen Situation im Land hin: „Angela Merkel mag sich im Ausland als Klimaschützerin gerieren, aber im Inland übernimmt sie keine Führung – sie täuscht uns.“
Er fügt hinzu, es gebe ebenso eine Diskrepanz zwischen der großen Unterstützung der deutschen Bürger für den Energiewendeprozess einerseits, und der Verzögerung des Kohleausstiegs durch die Regierung andererseits.
„Meinungsumfragen zeigen, dass die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland nicht nur den Energiewendeprozess unterstützt, sondern auch Angst vor dem Klimawandel hat. Die Deutschen spüren bereits die Auswirkungen steigender Temperaturen auf ihr Leben. 2018 war das bisher heißeste Jahr in Deutschland„, so Fell.
Es gebe jedoch auch einige positive Anzeichen, schließt Fell.
So habe Bayern angekündigt, „den Klimaschutz in seine Verfassung zu integrieren. Auch in Hessen und Thüringen geht es voran. Aber [auf Länderebene] ist der Spielraum natürlich kleiner als auf Bundesebene.“