So sieht der Verkehr der Zukunft aus

Wie sieht der Verkehr von morgen aus? 2020 könnte ein Wendejahr sein, meint der Zukunftsforscher Stephan Rammler. [Audrey Suslov/ Shutterstock]

Das Jahr 2019 könnte als Wendepunkt in die Geschichtsbücher eingehen, glaubt Stephan Rammler. Der Zukunftsforscher wagt einen Blick auf den Verkehr von morgen – und wie der Weg dorthin die Gesellschaft verändern könnte. EURACTIVs Medienpartner die Wirtschafswoche berichtet.

Stephan Rammler ist wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Zukunftsstudien und Technologiebewertung und Professor für Transportation Design an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Er forscht zu nachhaltiger, postfossiler Mobilität und zu Fragen der Gesellschafts- und Umweltpolitik. 2017 erschien sein Buch „Volk ohne Wagen“ beim S. Fischer Verlag.

WirtschaftsWoche: Herr Rammler, ich möchte mit einem Zitat beginnen und Sie nach Ihrer Einschätzung fragen, von wann es datiert.

Stephan Rammler: Nur zu.

„Der Verbrennungsmotor hat die in einer Großstadt sehr unangenehm fühlbare Eigenschaft, die verbrannten Gase auszustoßen. Die Luft an einem Verkehrszentrum besteht zum größten Teil aus Auspuffgasen der Automobile. Wenn man bedenkt, dass sich der Verkehr in den nächsten Jahren etwa verzehnfachen wird, dann wird man den Ruf nach dem elektrischen Betrieb in der Großstadt vom hygienischen Standpunkt aus verstehen können.“

Das dürfte Anfang des 20. Jahrhunderts geschrieben worden sein, in Berlin, New York oder einer anderen großen Metropole. Dort erlebten wir damals einen Kampf zwischen zwei verschiedenen Antriebsoptionen, dem Verbrennungs- und dem Elektromotor. Was heute fast vergessen ist: Der Elektromotor war im Bereich der Logistik und bei Taxiunternehmen in Europa und den USA weit verbreitet. Wie dieser Kampf ausgegangen ist, wissen wir ja.

Meiden Sie Zukunftsforscher, die so tun, als wüssten sie, was kommen wird. Es gibt keine Gewissheit. Unsere Welt ist geprägt von hoher Volatilität, Kontingenz sowie technologischen, kulturellen und ökonomischen Öffnungsprozessen. Aufgrund dieser Unsicherheit sollten wir als Zukunftsforscher sehr demütig agieren.

Wofür braucht es Zukunftsforscher dann überhaupt?

Wir Zukunftsforscher werden gebraucht, um Technikfolgeabschätzungen zu leisten und Orientierungswissen für eine Gesellschaft im Umbruch zu erzeugen. Wir entwerfen mögliche Szenarien und versetzen die Gesellschaft in die Lage, über etwaige Zukunftspfade ins Gespräch zu kommen.

Zurück zum Eingangszitat: Argumente, die heute gegen den Verbrennungsmotor angeführt werden, zirkulierten schon vor 100 Jahren. Was können wir daraus über die Zukunft der Mobilität ableiten?

Es ist verrückt, dass es klingt, als wäre es heute ausgesprochen worden, oder? Das Zitat zeigt zweierlei. Es gibt keine Zukunft ohne Herkunft. Alles, was wir als neu und innovativ empfinden, trifft auf eine Welt, die bereits durch Infrastrukturen, Bedürfnisse, Raum- und Siedlungsstrukturen formatiert ist. Die Welt, von der aus wir unsere Zukunft denken, ist geprägt von einem 100 Jahre währenden Einbettungsprozess der fossilbasierten Automobiltechnologie, der Lobbys hervorgebracht, sehr viel Kapital an bestimmte Produktionsanlagen gebunden, das Leben von Menschen auf dem Land wie in der Stadt unwiderruflich geprägt und unserem Klima nachhaltigen Schaden zugefügt hat. Davon muss jede Zukunftsszenerie ausgehen.

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Und was zeigt es noch?

Außerdem zeigt es, dass das Neue es immer schwer hat, sich gegen das Etablierte durchzusetzen. Wir wissen nicht erst seit diesem Jahr, dass der Verbrennungsmotor mit Blick auf das Klima großen Schaden anrichtet. Zudem ist die Zuspitzung der Klimaeffekte nach zwei Hitzesommern heute nichts mehr, was weit weg erscheint, sondern für jeden Bürger in Europa sichtbar. Aber kollektive Lernfähigkeit ist eine begrenzte Ressource. Menschen sind Gewohnheitstiere und haben kein großes Interesse an Veränderungen. Das gilt auch für die Art und Weise, wie sie Mobilität gestalten.

FDP-Chef Christian Lindner predigt, technische Innovationen würden die Probleme lösen, großartige Veränderungen unseres Verhaltens seien gar nicht notwendig.

Das ist völliger Unsinn. Technologie ist erst einmal neutral in ihrer Wirkungsweise. Die Frage ist stets, auf welche Art und Weise eine Gesellschaft sich Technologien aneignet. Digitale Technologien, etwa maschinelle Intelligenzen und maschinelles Lernen, schaffen Möglichkeiten für völlig neue Formen des Handels, der Marktwirtschaft und des Kapitalismus. Wenn wir diese Techniken aber einfach einsetzen, um alte Pfade zu bestreiten, wirken sie wie ein Brandbeschleuniger. Technische Innovation allein schafft keine Nachhaltigkeit.

Seit Anfang der 2000er Jahre reden uns Politiker ein, wenn wir alles digitalisierten, kämen Wohlstand, Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit von ganz alleine. Diese Annahme ist grundfalsch. Selbst wenn wir Künstliche Intelligenz unseren Verkehrsfluss regulieren und optimieren ließen, sodass wir weniger im Stau stünden, der Verkehr effizienter flösse und wir so weniger Treibstoff verbrauchten, würde das nicht ausreichen. Denn die Serverfarmen, die nötig sind, um diese Daten zu sammeln, zuzuschneiden und zu interpretieren, erfordern einen riesigen Energieaufwand. Digitalisierung findet nicht im luftleeren Raum statt, sondern hat Voraussetzungen.

Die Energie für die Rechenleistung wird heute aus fossilen Energieträgern generiert. Treiben wir unter gleichbleibenden Rahmenbedingungen die Digitalisierung voran, wird die Umweltbelastung nur größer.

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Wie sähe denn aus Ihrer Sicht ein nachhaltiger Verkehr in der Zukunft aus?

Ein nachhaltiger Verkehr ist nicht nur im ökologischen Sinne nachhaltig, sondern dazu zählt auch, dass er sozial gerecht und ökonomisch erfolgreich sein muss. Sonst ist er nicht durchsetzungsfähig. Der Verkehr in den Städten müsste ohne fossile Energieträger auskommen und kreislaufökonomiefähig sein, das heißt die Ressourcen sollten für andere Produkte möglichst zu 100 Prozent wiederverwertbar sein. Die Städte würden stärker elektrifiziert und damit auch sauberer und leiser. Der Verkehr wäre weniger raumintensiv. Kollektivverkehr, also öffentliche Nah- und Fernverkehrsangebote, sollten die Basisversorgung gewährleisten und ergänzt werden um Sharing-Mobility und Elektromobilität für die letzten Meilen.

Das klingt noch sehr abstrakt. Geht das etwas konkreter?

Städte wie Wien, Kopenhagen, Zürich oder Amsterdam eröffnen einen Ausblick auf die Zukunft des Verkehrs. Dort bildet ein leistungsfähiger öffentlicher Nahverkehr das Rückgrat der Verkehrsinfrastruktur. In diesen Städten existiert zudem bereits eine gutausgebaute Infrastruktur für das Fahrrad. Ergänzen müssten wir das durch digitalvernetzte Auto- oder Mikromobilitätsbausteine, die Flexibilität gewährleisten.

Nun sind das Städte – auf dem Land würde das sicher nicht funktionieren.

Mit viel zeitlichem Vorlauf und hohen Basisinvestitionen ginge das auch in ländlichen und suburbanen Räumen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass wir uns in manchen Teilen Deutschlands und der Welt nicht vom Automobil verabschieden können. Aber dort gilt es dann, die Autos so effizient und nachhaltig wie möglich zu gestalten und zu nutzen.

Wie stellen Sie sich das vor?

Heute sind Autos so gut wie nie vollständig ausgelastet und stehen 23 Stunden am Tag still. Das ist wahnsinnig ineffizient. Möglich wären schon heute effizient operierende Flotten, die 24 Stunden am Tag im Einsatz, zu 50 Prozent besetzt und elektrisch angetrieben sind. Um diesen Prozess in Gang zu setzen, wäre es nötig, schädliche Subventionen wie die Pendlerpauschale oder Dieselsubventionen zu streichen.

In Frankreich haben sich an einem vergleichbaren Vorhaben im vergangenen Jahr die Proteste der Gelbwesten entzündet.

Deswegen ist es wichtig, erst ein Angebot zu schaffen und den Menschen Verhaltensalternativen zum Verbrennungsmotor zu liefern, bevor wir anfangen, ihn höher zu bepreisen oder zu verbieten. Wir dürfen die Bürger nicht einfach mit den Kosten und den Problemen alleine lassen. Wir können mit Blick auf Mobilitätsgerechtigkeit nicht so agieren, als stünden den Menschen allerorts die gleichen Lebensbedingungen und Strukturen der Daseinsvorsorge zur Verfügung.

Sie plädieren also für staatliche Eingriffe?

Ich glaube, das einzelne Individuum ist weder in der Lage dazu, noch hat es die Neigung über die Änderung des privaten Konsums etwas für die Änderung der Welt zu tun. Der private Konsum bietet zwar Verhaltensspielräume, aber eben nur begrenzte. Die Transformation, die notwendig ist, wird nicht ohne den Staat funktionieren. Ein Staat muss eine Gesellschaft so regulieren, dass sie Sicherheit und offene Zukunftsoptionen bietet. Das hat in Zeiten des Rheinischen Kapitalismus bis in die 1970er sehr gut funktioniert, daran müssten wir wieder anknüpfen. Wir müssen uns wieder auf das Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft besinnen. Ohne eine massive Infrastruktur- und Regulierungspolitik, ohne eine große Klimabesteuerung ist keine Transformation denkbar. Der freie Markt wird das nicht leisten.

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Sie beschäftigen sich seit 30 Jahren mit Klimafragen und der Mobilität der Zukunft. Vergeht Ihnen da nicht manchmal die Hoffnung?

Ich bin natürlich skeptisch, ob der Wandel gelingt. Aktuell sieht es nicht danach aus, als würden wir es schaffen. Das heißt aber nicht, dass wir die Hoffnung verlieren sollten. Wir müssen auch sehen: Es gab noch nie eine so moderne, leistungsfähige und technologisch hoch entwickelte Weltgemeinschaft wie heute. Unsere Gesellschaften mit all ihren gutausgebildeten Bürgern sind auf kollektives Handeln vorbereitet. Das Jahr 2019 könnte, was das anbetrifft, in mehrfacherweise als Wendepunkt in die Geschichtsbücher eingehen.

Inwiefern?

Durch Greta Thunberg und den internationalen Gruppenbildungsprozesse in der jungen Generation erleben wir etwas, worauf ich lange gehofft habe. Greta Thunberg und das Team, das sie unterstützt, machen eine wahnsinnig gute Arbeit. Das ist natürlich auch das Ergebnis technologischer und kultureller Veränderungen der vergangenen Jahre. Wie schnell Informationen sich dank der Social-Media-Kanäle in der Welt verbreiten, ist etwas völlig Neues und versetzt junge Menschen in die Lage, Meinungsbildung im globalen Kontext zu betreiben. Gleichzeitig erleben wir sozialkritische Bewegungen in vielen Teilen der Welt, in Hong Kong, im Iran, in Venezuela. Zwischen vielen dieser Bewegungen findet ein Austausch statt. Informationen, Positionen und Taktiken fluktuieren heute um die ganze Welt. Deswegen bin ich heute optimistischer, dass Änderungen möglich sind, als ich das noch vor einem Jahr war. Ohne Fridays for Future hätten wir keinen Green New Deal auf der Europäischen Ebene und keine Debatte über ein Klimapaket in Deutschland.

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