Gesetzgeber im Europäischen Parlament haben sich besorgt über die Rolle geäußert, die soziale Medien bei der Erstürmung des US-Kapitols in Washington gespielt haben. Sie fordern, dass der von der EU vorgeschlagene Digital Services Act (DSA) verstärkt gegen die Verbreitung von Verschwörungstheorien im Internet vorgehen soll.
Anhänger des scheidenden Präsidenten Donald Trump sind am Mittwoch gewalttätig in das US-Kapitol in Washington DC eingedrungen, um die Bestätigung des Wahlsiegs von Joe Biden zu behindern.
Zum ersten Mal schienen die Social-Media-Plattformen ihre Mitverantwortung daran zu erkennen, dass Donald Trump falsche Behauptungen verbreiten konnte, wonach die US-Wahl angeblich manipuliert worden sei.
In einem beispiellosen Schritt hat Twitter den privaten Account des US-Präsidenten vorübergehend gesperrt. Trumps Tweets hätten „wiederholt und schwerwiegend“ gegen die Richtlinien der Plattform verstoßen und müssten gelöscht werden, erklärte Twitter in einer Stellungnahme.
Auch Facebooks Mark Zuckerberg gab am Donnerstag (7. Januar) bekannt, dass Trump „auf unbestimmte Zeit“ aus dem Netzwerk verbannt wurde, „und zwar für mindestens die nächsten zwei Wochen“. Trump habe gezeigt, dass er die Machtübergabe an Joe Biden sabotieren wolle, so Zuckerberg.
„Wir glauben, dass die Risiken, dem Präsidenten zu erlauben, unseren Dienst während dieser Zeit weiter zu nutzen, einfach zu groß sind“, schrieb Zuckerberg in einem Beitrag auf Facebook.
In Brüssel verurteilten die Europaabgeordneten schnell die Rolle, die soziale Medienplattformen bei der Mobilisierung einer Gemeinschaft gespielt haben, die in der Lage war, die gewalttätigen Vorfälle rund um das Kapitol, auszuführen. Besonders die Verbreitung von konspirativem Material auf den Plattformen habe eine große Rolle bei der Mobilisierung der Trump-Anhänger gespielt.
„Die Unruhen in Washington wurden zu einem großen Teil durch Online-Verschwörungstheorien angeheizt, die so erfolgreich waren, dass sie das Vertrauen vieler Amerikaner in grundlegende demokratische Institutionen völlig untergraben haben“, erklärte Kris Peeters, ein belgischer Mitte-Rechts-Abgeordneter, der im vergangenen Jahr einen Initiativbericht über den Digital Services Act und die Grundrechte leitete.
„Unser European Digital Services Act muss die Transparenz und die Durchsetzung von digitalen Unternehmen deutlich verbessern, damit wir sicherstellen können, dass sie die Risiken angemessen angehen, insbesondere wie Desinformationen geteilt und verstärkt werden“, fügte er hinzu.
Im Rahmen des Digital Services Act drohen den Plattformen Bußgelder in Milliardenhöhe, wenn sie sich nicht an die neuen Regeln zur Werbetransparenz, zur Entfernung illegaler Inhalte und zum Datenzugriff halten. Bei Verstößen drohen Bußgelder in Höhe von bis zu sechs Prozent des Jahreseinkommens eines Unternehmens.
Alex Agius Saliba, ein sozialdemokratischer Europaabgeordneter, der im vergangenen Jahr einen Text über den Digital Services Act für den Binnenmarktausschuss des Parlaments leitete, sagte, dass das bahnbrechende Gesetz der EU die Verbreitung falscher Inhalte genauer unter die Lupe nehmen müsse.
„Dies ist ein Angriff auf die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit, und ich hoffe nur, dass der Frieden wiederhergestellt wird“, sagte er gegenüber EURACTIV.
„Digitale Praktiken, die darauf abzielen, die Aufmerksamkeit der Nutzer durch illegale oder sensationsheischende Inhalte zu maximieren, müssen im DSA angemessen thematisiert werden.“
Verhaltenskodex und der DSA
Im Hinblick auf Desinformationen schaffen die vorgeschlagenen Regeln einen koregulatorischen Rahmen, der eine entscheidende Rolle im EU-Verhaltenskodex gegen Falschinformationen spielen wird, einem freiwilligen Mechanismus, dem sich Facebook, Google und Twitter angeschlossen haben.
Die Europäische Kommission hat ihrerseits mit der Arbeit begonnen, die Bemühungen gegen Desinformationen zu verstärken, die im Kodex beschrieben sind.
„Wir arbeiten jetzt an einem verstärkten Verhaltenskodex gegen Desinformation“, kündigte Věra Jourová, die Vizepräsidentin der Kommission für Werte und Transparenz, an.
Eines der Ziele wird sein, „Informationen über die Richtlinien der Plattformen und den Zugang zu Daten zu überwachen, Standards für die Zusammenarbeit zwischen Faktenprüfern und Plattformen zu entwickeln und die Integrität der Dienste zu stärken“, sagte sie am Donnerstag (7. Januar) gegenüber EURACTIV.
„Dank des Digital Services Act werden wir eine gesetzliche Grundlage für diesen Schritt haben. Der Digital Services Act führt unter anderem eine allgemeine Notwendigkeit für große Plattformen ein, risikomindernde Maßnahmen zu ergreifen. Der Kodex kann eine dieser Maßnahmen sein, wenn er richtig umgesetzt wird“, so Jourová weiter.
Die Kommission wird im Frühjahr einen Leitfaden veröffentlichen, in dem sie darlegt, wie die Plattformen ihre Maßnahmen auf der Grundlage ihrer Bewertung eines aktualisierten Verhaltenskodex gegen Desinformation verstärken müssen.
Der sozialdemokratische Europaabgeordnete Paul Tang, der eine Stellungnahme zum Digital Services Act für den Ausschuss für bürgerliche Freiheiten des Parlaments abgab, glaubt jedoch, dass Richtlinien für Social-Media-Plattformen nicht ausreichen könnten.
Während „klare Richtlinien für die größten Plattformen in der Tat notwendig sind, um die Verbreitung von Desinformation zu stoppen“, sollte die Möglichkeit einer direkten Regulierung gegen Desinformation nicht außer Acht gelassen werden, sagte er.
„Angesichts ihrer enormen kommerziellen Interessen und ihrer schlechten Erfolgsbilanz können wir uns nicht auf den guten Willen von Twitter und Facebook verlassen, wenn es um das Funktionieren der Demokratie geht“, betonte er gegenüber EURACTIV.
Die grüne Europaabgeordnete Alexandra Geese, DSA-Schattenberichterstatterin im Binnenmarktausschuss, stimmte ihm zu. Sie bemängelte insbesondere Bestimmungen im Digital Services Act, die digitalen Plattformen die Freiheit geben, ihre eigenen Risiken in bestimmten Bereichen zu bewerten.
„Die Kommission will, dass Google und Facebook ihre eigenen Risikobewertungen erstellen – das ist so, als würde man Volkswagen sagen, dass sie ihren Beitrag zum Klimawandel bewerten sollen“, sagte sie gegenüber EURACTIV. Geese verwies auf den Fall der KI-Ethikforscherin Timnit Gebru, die im Dezember von Google gefeuert wurde, weil sie angeblich ein Papier geschrieben hatte, in dem sie die intrinsische Voreingenommenheit von Systemen der künstlichen Intelligenz erklärte.
„Wie können wir von diesen Unternehmen erwarten, dass sie ihre eigenen Risikobewertungen schreiben, wenn sie nicht einmal kritisches Denken zulassen und diejenigen vertreiben, die daran arbeiten, die Risiken zu mindern?“ fügte Geese hinzu.
Krawalle wurden online geplant
In den Tagen vor der Kongressabstimmung am Donnerstag waren auf verschiedenen Online-Plattformen Demonstrationen geplant und angekündigt worden.
Vieles davon geschah jedoch abseits der Mainstream-Webseiten: Auf den Pro-Trump-Plattformen „Gab“ und „Parler“ wurde der Hashtag #stopthesteal (dt.: Stoppt den Diebstahl) weit verbreitet, um zu Gewalt aufzurufen. Dazu gehörten auch Bilder von einem bewaffneten George Washington mit der Bildunterschrift: „Wir sollten nicht darauf zählen, dass Trump uns rettet. Am 6. Januar müssen wir, das Volk, ihn retten.“
Eine weitere viel genutzte Plattform ist das Forum „TheDonald.win“, in dem die Nutzer gelobt hatten, „das Kapitol zu stürmen“, falls der Kongress dem Wahlergebnis seinen Segen geben sollte. Allein dieser Kommentar erhielt über 500 Upvotes.
Aber auch auf Mainstream-Plattformen wurde offen zu Gewalttaten aufgerufen. In einem TikTok-Video forderte ein Trump-Anhänger seine Mitstreiter auf, ihre Waffen zu den Protesten mitzubringen.
Die Eskalation der Gewalt hätte die US-Behörden deshalb kaum überraschen können, meint Alexander Ritzmann, Berater des Radicalisation Awareness Network (RAN) der EU-Kommission und Berater des Counter Extremism Project (CEP).
„Sie müssen es gewusst haben“, sagte Ritzmann gegenüber EURACTIV Deutschland. Laut öffentlichen FBI-Dokumenten hat das FBI die Aktivitäten von Online-Gruppen wie QAnon genau verfolgt, ein loses Kollektiv von Verschwörungstheoretikern, die glauben, dass Donald Trump ihre einzige Rettung vor den Schurken der Washingtoner „Elite“ ist.
Das FBI betrachtet QAnon und andere „von Verschwörungstheorien getriebene inländische Extremisten“ als terroristische Bedrohung.
In Brüssel finalisieren die Gesetzgeber eine Verordnung zu terroristischen Online-Inhalten (TCO). Sie wird unter anderem ein strengeres Notice-and-Action-System einführen, das Plattformen dazu zwingt, terroristische Inhalte innerhalb einer Stunde nach Meldung zu löschen.
Ritzmann ist jedoch der Meinung, dass jedes System, das auf Notice-and-Action beruht, nicht ausreichend sein kann, solange sich die Plattformen zurücklehnen und warten können, bis Nutzer oder Behörden sie zum Handeln auffordern.
[Bearbeitet von Frédéric Simon]