Die gestern veröffentlichten „Leitlinien zur Stärkung des Verhaltenskodex für den Bereich der Desinformation“ zeigen die Erwartungen der EU-Kommission in Bezug auf Anti-Desinformationsmaßnahmen für Online-Plattformen auf. Der entsprechende Kodex bleibt vorerst zwar weiterhin unverbindlich, die Maßnahmen dürften mit der zukünftigen Verabschiedung des Digital Services Act (DSA) jedoch verpflichtend werden.
Der im Oktober 2018 eingeführte „Verhaltenskodex“ in Sachen Desinformation ist ein erster Ansatz der Online-Plattformen zur Selbstregulierung und Bekämpfung von Desinformation. Zu den Unterzeichnern gehören Facebook, Google, Microsoft, TikTok und Twitter.
Der nun präsentierte Leitfaden war als Teil des Europäischen Aktionsplans für Demokratie angekündigt worden, den die Kommission im Dezember 2020 offiziell gestartet hat. Er zielt darauf ab, den Verhaltenskodex zu stärken, indem auf Schwachstellen verwiesen wird, die in einer ersten Bewertung zwölf Monate nach dem Start des Kodex festgestellt wurden.
Die für Werte und Transparenz zuständige Vizepräsidentin der EU-Kommission Věra Jourová betonte in einer Pressekonferenz gestern die Notwendigkeit, gerade auch die Nutzerinnen und Nutzer stärker einzubinden: „Die Bedrohungen durch Desinformation im Internet entwickeln sich rasch weiter, und wir müssen unser kollektives Handeln verstärken, um der Rolle der Bürgerinnen und Bürger mehr Gewicht zu verleihen und den demokratischen Informationsraum zu schützen.“
Binnenmarktkommissar Thierry Breton verwies auf das umstrittene Geschäftsmodell einiger Plattformen: „Desinformation darf keine Einnahmequelle bleiben. Wir brauchen ein stärkeres Engagement der Online-Plattformen, des gesamten Werbeökosystems und der Netzwerke von Faktenprüfern.“
Mit der Initiative beabsichtigt die Kommission, Maßnahmen zur Rechenschaftspflicht einzuführen, die Online-Plattformen dazu verpflichten würden, darzulegen, wie sie ihre Algorithmen angepasst haben, um gegen Desinformation vorzugehen. Man will damit aktiv gegen „schädliche Inhalte“ vorgehen, die unter anderem durch „manipulative Techniken“ wie Bots viral gehen.
Plattformen zeigen sich vorsichtig kooperativ
Twitter hat die neuen Leitlinien der Kommission begrüßt und auf seine Responsible Machine Learning Initiative verwiesen, die die Transparenz seiner Algorithmen fördern soll. Sinéad McSweeney, EMEA-Vizepräsidentin für Public Policy, erklärte, dass „regional konsistente Co-Regulierungsstandards ein entscheidendes Element für die Aufrechterhaltung des offenen Internets sind und sicherstellen, dass Plattformen aller Größenordnungen vertrauensvoll im Rahmen vereinbarter Normen arbeiten können“.
Der EU-Leitfaden sieht außerdem die Einführung individueller Verpflichtungen je nach Art der Plattform vor, insbesondere die Ausweitung des Kodex auf Messaging-Dienste. Außerdem wird ein Überwachungsrahmen mit einer Reihe von Key Performance Indicators (KPIs) eingeführt, die in standardisierte Berichte mit Länderaufschlüsselung einfließen sollen.
Die Unterzeichner sollen darüber hinaus die Maßnahmen, die sie zur Bekämpfung von Desinformation ergriffen haben, in einem Transparenzzentrum veröffentlichen. Eine bessere Zusammenarbeit mit Fact-Checking-Organisationen und der Austausch von Daten mit Forschungsinstitutionen wird ebenfalls angeregt.
Mit Blick auf die Initiative hob Facebook seine laufende Arbeit mit 35 Fact-Checking-Organisationen in Europa hervor. „Wir unterstützen den Fokus der Kommission auf mehr Transparenz für die Nutzer und eine bessere Zusammenarbeit sowohl zwischen den Plattformen als auch im gesamten Werbe-Ökosystem,“ so ein Sprecher des Unternehmens gegenüber EURACTIV.com.
Wie weiter?
Aus Sicht der zivilgesellschaftlichen Plattform Avaaz könnte der gestärkte Verhaltenskodex zu einer Art „Pariser Abkommen zur Bekämpfung von Desinformation“ werden.
Kampagnendirektor Luca Nicotra lobte: „Dies ist eines der fortschrittlichsten Rahmenwerke zur Bekämpfung von Desinformation, die wir je gesehen haben. Jetzt müssen sich alle Augen auf die Tech-Giganten richten, um zu sehen, ob sie aufhören, PR-Spiele zu spielen und echte, messbare Maßnahmen unterschreiben.“
Da der Verhaltenskodex freiwillig bleibt, bietet auch der neue Leitfaden keine rechtliche Grundlage für mögliche Strafen gegen Plattformen, die nicht genügend Maßnahmen zur Bekämpfung von Desinformation ergreifen. Ein solcher rechtlicher Rahmen würde jedoch mit dem Digital Services Act (DSA) eingeführt – einem neuen Regulierungsvorschlag, den die Kommission im vergangenen Dezember vorgelegt hat.
Da der DSA das reguläre EU-Gesetzgebungsverfahren durchläuft, könnte es allerdings noch zwei Jahre (oder sogar länger) dauern, bis er tatsächlich verabschiedet wird. In der Zwischenzeit hat die Kommission in den Leitlinien nun zumindest ihre Erwartungen hinsichtlich der Maßnahmen dargelegt, die Online-Plattformen zur Bekämpfung von Desinformation ergreifen sollten.
Außerdem wird erwartet, dass die EU-Exekutive im November eine neue Verordnung über politische Online-Werbung vorlegen wird.
[Bearbeitet von Zoran Radosavljevic]