Zum Ende der deutschen EU-Ratspräsidentschaft am 31. Dezember hat Frankreichs Botschafterin in Deutschland, Anne-Marie Descôtes, bei einer Anhörung im Senat am vergangenen Donnerstag (17. Dezember) auf die vergangenen sechs Monate zurückgeblickt.
„Es ist ein außergewöhnliches Jahr, das wir gerade durchleben. Erstens natürlich wegen der Krise. Aber 2020 war auch außergewöhnlich in Bezug auf die deutsch-französischen Beziehungen, mit einer wirklich besonderen Intensität in der gemeinsamen Arbeit und Koordination,“ erklärte die Botschafterin vor dem Europaausschuss des französischen Senats.
Sie erinnerte beispielsweise an Mitte Mai – kurz vor der deutschen EU-Ratspräsidentschaft – als Bundeskanzlerin Angela Merkel und Präsident Emmanuel Macron gemeinsam ein 500 Milliarden Euro schweres Konjunkturprogramm vorschlugen, das auf der Idee eines gemeinsamen Schuldenpools basiert – ein Ansatz, der östlich des Rheins zuvor kaum denkbar schien.
In Berlin hatte man die Idee einer „Vergemeinschaftung“ der Schulden stets gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Erinnert sei an die sogenannte Griechenland-Krise und den ehemaligen Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, der darauf beharrte, dass die aufgezwungene Austeritätspolitik trotz des drohenden Komplettzusammenbruchs Griechenlands nicht gelockert werden dürfe.
Doch die COVID-19-Krise ist anders: Angesichts der vielen neuen Herausforderungen, die die globale Pandemie mit sich bringt, hat die Bundesregierung eine 180-Grad-Wende vollzogen.
Ein Grund dafür: Im Gegensatz zu Frankreich, dessen Wirtschaft hauptsächlich auf dem heimischen Markt ausgerichtet ist, ist Deutschland der größte Exporteur Europas.
„Deutschland hat verstanden, dass es in einem sehr komplizierten internationalen Kontext – mit einem schwierigeren Verhältnis zu China und den Vereinigten Staaten – notwendig ist, sich auf den EU-Binnenmarkt zu konzentrieren und die europäische Solidarität zu stärken,“ so Descôtes. Die deutsche Führung habe offenbar verstanden, dass eine gute Wirtschaftsentwicklung „zwar eng mit unserer eigenen Lage, aber auch mit der unserer Nachbarn, insbesondere Spaniens und Italiens, verknüpft ist“.
„Souveränität“ und „Autonomie“
Die Botschafterin betonte weiter, nicht nur das gemeinsame Konjunkturprogramm sondern auch das übergeordnete Ziel der „europäischen Souveränität“ müsse beibehalten werden.
Tatsächlich haben Paris und Berlin bereits mehrere groß angelegte Kooperationen in strategischen Bereichen wie Elektroauto-Batterien, 5G-Technologie und Wasserstoff initiiert.
Am 10. Dezember gaben die beiden Partner darüber hinaus ihre Absicht bekannt, die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Raumfahrtindustrie zu stärken und das Projekt Ariane 6 für eine neue europäische Trägerrakete abzuschließen.
Zwar gebe es „nahezu systemische Unterschiede in der Herangehensweise zwischen Frankreich und Deutschland, und zwar bei allen Themen“, räumte Descôtes ein. „Aber Europa kann nur dann konkrete Fortschritte machen, wenn wir Vereinbarungen erzielen. Es ist wichtig, dass der [deutsch-französische] Motor funktioniert.“
Die strategische Autonomie
Auch in der Frage der europäischen Verteidigung und der gewünschten „strategischen Autonomie“ schienen die französischen und deutschen Ansätze im November noch sehr unterschiedlich zu sein. Präsident Macron und Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) vertraten diametral entgegengesetzte Positionen: Der eine plädierte für eine europäische Verteidigung und eine gewisse Loslösung von der US-Militärmacht, die andere erklärte eine solche Autonomie per Meinungsartikel für eine Illusion.
Descôtes kommentierte dazu: „Wir dürfen den Worten von Frau Kramp-Karrenbauer von Anfang November nicht mehr allzu viel Bedeutung beimessen, sie hat diese ja später relativiert. Gleiches gilt für die Aussagen des Präsidenten in einem Interview mit Grand Continent. Wichtig ist nur, dass wir uns in der Sache völlig einig sind.“
Sie gehe davon aus, dass die umstrittenen Aussagen vor allem der jeweiligen innenpolitischen Lage geschuldet waren: „Kramp-Karrenbauer stand vor einem Bundestag, in dem es in diesen Fragen heiß her ging. Sie wird scharf kritisiert und sie weiß, dass die SPD ein starker Gegner ist. Nicht alle in der SPD sind ihrer Meinung, aber insbesondere der Vorsitzende der Bundestagsfraktion, Rolf Mützenich, hat eine ganz klar pazifistische Linie und stellt Rüstungsinvestitionen in Frage.“
Frankreich sei hingegen ebenfalls der grundsätzlichen Ansicht, dass man die Amerikaner weiterhin braucht, „wo immer wir auf militärischen Schauplätzen aktiv sind“, fügte Descôtes hinzu. „Wir wissen, sogar besser als die Deutschen, dass wir ohne [US-amerikanische] Unterstützung nicht handeln könnten. Dennoch kann und sollte es innerhalb der NATO eine stärkere europäische Säule geben. Davon würde nicht nur Europa, sondern auch die NATO insgesamt profitieren.“
Unterschiedliche Ansätze
Clément Beaune, französischer Staatssekretär für europäische Angelegenheiten, hatte bereits im September in einer Zeitschrift des französischen Instituts für internationale Beziehungen (IFRI) für verstärkte „Souveränität, Macht und Autonomie eines starken Europas“ geworben – allesamt Begriffe, die in Deutschland eher mit Vorsicht genossen und kaum als Ziele ausgegeben werden.
„Wir müssen im Rahmen der deutsch-französischen Beziehungen noch viel miteinander reden, und zwar ständig. Vergessen Sie nie, dass bestimmte Wörter wie „strategische Autonomie“ Konnotationen haben können, die zu Missverständnissen führen,“ warnte auch Descôtes.
Sie erläuterte: „Der Begriff der strategischen Autonomie wird in Frankreich als eine umfassende Autonomie wahrgenommen, die nicht nur Verteidigung, sondern auch künstliche Intelligenz, Gesundheit etcetera einschließt. Dies ist aber eine Wahrnehmung, die in dieser Art in Deutschland nicht vorhanden ist. Viele Deutsche denken beim Thema „strategische Autonomie“ sofort an Interkontinentalraketen. Daher wirkt dies erst einmal recht angsteinflößend und bedrohlich.“
Das Thema dürfte Anfang 2022 weiterhin aktuell sein, wenn Frankreich die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt. Auch das gestiegene Bewusstsein Berlins für die Bedeutung der europäischen Autonomie – insbesondere aufgrund der Gesundheitskrise und der Probleme beim Zugang zu Medikamenten oder Masken – scheint jedoch von Dauer zu sein.
Die vom Wirtschaftsminister-Tandem Peter Altmaier und Bruno Le Maire vertretenen Positionen im Beriech Industriepolitik (bzw. „Industrie-Souveränität“) machen diesen Paradigmenwechsel auch auf EU-Ebene deutlich.
„Wir haben keineswegs die gleichen Voraussetzungen oder den gleichen Startpunkt, aber es gibt in Deutschland eine sehr klare Entwicklung […] mit dem Willen, voranzukommen,“ analysierte Descôtes.
Dies gelte auch im militärischen Bereich: Zwar sei die Bundeswehr aufgrund ihrer Abhängigkeit vom Bundestag in gewisser Weise eingeschränkt, „aber Deutschland ist beispielsweise bei unseren Einsätzen in Afrika sehr präsent an unserer Seite – und zwar in zunehmendem Maße,“ zeigte sich die Botschafterin zufrieden.
[Bearbeitet von Tim Steins]