Benachteiligung von Sinti und Roma im deutschen Bildungssystem „erschreckend“

Die neue RomnoKher-Studie zeigt, dass die Bildungschancen für Sinti und Roma in Deutschland geringer sind. [EPA-EFE | Sascha Steinbach]

Sinti und Roma sind im deutschen Bildungssystem weiterhin mit Ungleichheit konfrontiert, wie eine neue Studie zeigt. PolitikerInnen und Verbände fordern nun, Förderungsmaßnahmen genauer unter die Lupe zu nehmen.

Ein Jahrzehnt nach der ersten Studie zur Bildungssituation der Sinti und Roma in Deutschland hat der Verein RomnoKher in einem am Mittwoch (24. Februar) vorgestellten Bericht neue Daten zusammengetragen.

Basierend auf 614 Interviews mit Sinti und Roma in ganz Deutschland zeigt er, dass diese Gruppe im Bildungssystem immer noch benachteiligt ist, wenngleich es einige Fortschritte im Vergleich zur Studie aus dem Jahr 2011 gegeben habe.

Verbesserungen gibt es beispielsweise in Bezug auf den Grundschulbesuch: Demnach gehen unter den jüngeren Befragten der diesjährigen Studie alle Sinti und Roma zumindest zur Grundschule, während 2011 noch 13 Prozent gar nicht zur Schule gingen.

Allerdings stellte eine Autorin der Studie, Karin Cudak von der Europa-Universität Flensburg, fest: „Ein großer Teil verlässt das Bildungssystem mit leeren Händen.“

Ein Drittel der Befragten habe die Schule ohne Abschluss verlassen, weitere 30 Prozent haben einen Hauptschulabschluss. Doch auch letztere Gruppe habe “faktisch nur sehr geringe Chancen, eine qualifizierte Berufsausbildung zu absolvieren“, so der Soziologe Albert Scherr bei der Vorstellung der Studienergebnisse. 

Bei der jüngeren Generation (Befragte zwischen 18 und 25 Jahren) gibt es derweil positive Trends: Nur 15 Prozent verlassen die Schule ohne Abschluss, und 17 Prozent erreichen das Abitur. Allerdings gibt es immer noch große Diskrepanzen zwischen Sinti und Roma und ihren Altersgenossen: Der Bundesdurchschnitt der Schulabgänger ohne Abschluss liegt in dieser Altersgruppe bei lediglich sieben Prozent; 40 Prozent machen Abitur, wobei letztere Zahl je nach Bundesland stark variiert.

Romeo Franz, MdEP (Die Grünen/EFA) und erster deutscher Sinto im Europäischen Parlament, findet die Ergebnisse “erschreckend”. Die sei “eine Sichtbarmachung, wie Menschen so viele Jahren nach dem Holocaust immer noch [unter dem politischen Erbe und der Diskriminierung der NS-Zeit] leiden,” sagte er in einem Gespräch mit EURACTIV.

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Diskriminierung in der Schule

Zusätzlich sind Sinti und Roma häufig mit Diskriminierung in der Schule konfrontiert: Über alle Altersgruppen hinweg gab eine Mehrheit (durchschnittlich 62 Prozent) an, wegen ihrer ethnischen Herkunft gemobbt worden zu sein. Mehr als 50 Prozent berichteten, körperliche Gewalt erlebt zu haben. Ein Viertel der Befragten gab an, dass sie sogar von Lehr- und anderem Schulpersonal diskriminiert worden seien. 

Der Forscher Scherr stellte diesbezüglich fest, dass dazu nicht nur direkt antiziganistische Beleidigungen gehören, sondern auch eher indirekte Formen der Diskriminierung.

„Wir wissen aus der einschlägigen Forschung sehr klar, dass die Erwartungen von Lehrkräften sehr starke Effekte auf das tatsächliche Leistungsvermögen von SchülerInnen haben. Das heißt, wir brauchen als LehrerInnen gar keine direkt beschimpfende Äußerungen zu machen, um diskriminierende Effekte zu erzielen,” erklärte er.

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“Explizite, aber nicht exklusive Maßnahmen”

Die Ergebnisse der Studie zeigen die Notwendigkeit von „expliziten, aber nicht exklusiven“ Maßnahmen, die sich an Sinti und Roma richten, argumentiert Daniel Strauß, der Leiter der Studie. Diese Formulierung stammt aus Strategien der EU: Seit 2011 setzt sich die EU-Kommission für Maßnahmen ein, die auf die besonderen Bedürfnisse dieser Bevölkerungsgruppen eingehen sollen.

Der neue Strategische Rahmen der EU für die Roma, der im Oktober 2020 veröffentlicht wurde, fordert „eine explizite, aber nicht ausschließliche Ausrichtung”, um einen “wirksamen gleichberechtigten Zugang der Roma zu Rechten und Dienstleistungen zu fördern.“

Von 2011 bis heute war die Bundesregierung allerdings nicht imstande, diese Maßnahmen umzusetzen – mit der Begründung, dass dies gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoße.

Noch im Januar 2021 hielt die Regierung an dieser Argumentation fest. In der Antwort auf eine kleine Anfrage der FDP heißt es: „In den Ländern stehen den Kindern aller Sinti und Roma alle Maßnahmen der individuellen Lernförderung zur Verfügung, die auch allen anderen Schülerinnen und Schülern und speziell Kindern und Jugendlichen zugänglich sind.“ 

Franz ist anderer Meinung: “Politiker, die sagen, dass dies gegen die Gleichbehandlung verstößt, sollten sich tatsächlich mal Gedanken machen, wie in den letzten 60, 70 Jahren der Ausgrenzung und Diskriminierung gegen die Gleichbehandlung verstoßen wurde. Dieses Argument kann ich nicht nachvollziehen,” erklärte er EURACTIV.

Helge Lindh, MdB und Berichterstatter der SPD-Bundestagsfraktion für den Bereich Antiziganismus, sieht Diskrimierung als das Kernproblem. “Sinti und Roma erfahren eine ganz besondere Form der Diskriminierung auf allen gesellschaftlichen Ebenen und diese Praktiken müssen schonungslos beseitigt werden. Dabei unterstütze ich das sogenannte ‘explicit, but not exclusive targeting’”, teilte er mit EURACTIV mit. Diese Methode bestehe nicht aus disparaten Einzelmaßnahmen, sondern aus einem systematischen Plan zur Bekämpfung von Antiziganismus.

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Der Studienleiter kommt zu einer ähnlichen Einschätzung. „Die allgemeinen Fördermaßnahmen, auf die die deutsche Politik immer wieder verweist, haben sich hier doch als nicht ausreichend erwiesen”, kritisierte Strauß am Mittwoch bei der Vorstellung der Studienergebnisse. 

Die Studie habe insbesondere gezeigt, dass die Unterstützung von Sinti und Roma durch Organisationen innerhalb ihrer Gemeinschaft, die laut Strauß mit den von der EU genannten expliziten Maßnahmen vergleichbar sei, einen großen Einfluss auf ihre Bildungsergebnisse hat.

82 Prozent derjenigen, die derartige Unterstützung erhielten, schlossen die Schule mit einem Abschluss ab, verglichen mit nur 55 Prozent, die keine Hilfe erhielten. 

Christoph Leucht, Projektmanager bei der Hildegard Lagrenne Stiftung, fügte hinzu, dass auch wichtige Punkte wie Diskriminierung innerhalb der offiziellen Unterstützungsprogramme ignoriert würden. Darüber hinaus argumentierte er, die Bundesregierung spiele lieber mit antiziganistischen Stereotypen und gebe den Sinti- und Roma-Gemeinschaften die Schuld dafür, dass sie die Angebote nicht ausreichend nutzten – anstatt zu überprüfen, was genau in den Initiativen nicht funktioniert. 

[Bearbeitet von Tim Steins]

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