Sechs Nichtregierungsorganisationen haben gestern eine Sammelklage gegen den französischen Staat eingereicht. Ihr Ziel: ein ausdrückliches Verbot diskriminierender Identitätskontrollen. Derartiges Racial Profiling sei in Frankreich nach wie vor an der Tagesordnung.
Die sechs NGOs – Amnesty International, Open Justice Initiative, Human Rights Watch, Pazapas Belleville, Maison communautaire pour un développement solidaire (MCDS) und Réseau égalité antidiscriminations justice interdisciplinaire (REAJI) – haben am Mittwochmorgen eine förmliche Mitteilung an Premierminister Jean Castex sowie Innenminister Gerald Darmanin und Justizminister Éric Dupond-Moretti gerichtet.
Angesichts der „verabscheuungswürdigen und systemischen“ Diskriminierung in Form von offensichtlichem Racial Profiling sei in Frankreich „nun ein juristisches Verfahren notwendig“, erklärte Cécile Coudriou, Vorsitzende von Amnesty International Frankreich, auf einer Pressekonferenz. Alle an der Sammelklage beteiligten NGOs hätten diese „beispiellose“ Aktion [es ist die erste derartige Sammelklage im Land] als „den effektivsten Weg angesehen, um die Dinge in Bewegung zu bringen und den Staat dazu zu bringen, sich endlich seiner Verantwortung zu stellen.
Die 2014 per Gesetz eingeführte Sammelklage ermöglicht es einer Gruppe von Personen, von denen jede der Meinung ist, Opfer desselben Unrechts zu sein, gemeinsam ein Gerichtsverfahren einzuleiten. Die Klage muss allerdings von entsprechenden Verbänden, Vereinen oder Gewerkschaften eingereicht werden.
Antoine Lyon-Caen, Anwalt beim Staatsrat und beim Kassationsgerichtshof, der die Mitteilung im Namen der sechs Organisationen eingereicht hat, bezeichnet die Aktion vor allem als eine „Erinnerung an eine regelrechte Plage – nämlich an die Existenz und das Ausmaß derartiger Gesichtskontrollen in Frankreich.“ Es gebe weiterhin diskriminierende Kontrollen, „und sie sind in Frankreich in den vergangenen Jahren sogar noch ausgeweitet worden“, so der Anwalt.
Eine 2017 veröffentlichte Untersuchung der unabhängigen Grundrechte-Behörde Défenseur des Droits hatte in der Tat gezeigt, dass Hautfarbe und (vermeintliche) ethnische Zugehörigkeit eine große Rolle bei der Häufigkeit von Identitätskontrollen durch Strafverfolgungsbehörden spielen.
In einem Urteil des Kassationsgerichts aus dem Jahr 2016 wurde dargelegt, dass eine „Identitätskontrolle auf der Grundlage von körperlichen Merkmalen, die mit einer tatsächlichen oder vermuteten Herkunft in Verbindung gebracht werden, ohne vorherige objektive Rechtfertigung diskriminierend ist“.
Die diskriminierenden Kontrollen, die von den sechs NGOs als „systemisch“ eingeschätzt werden, haben derweil äußerst negative Auswirkungen: „Diese Kontrollen wirken sich auch auf unser Gefühl der Zugehörigkeit zu dieser Republik aus,“ warnt Omer Mas Capitolin, Direktor des MCDS. „Wir fühlen uns wie Bürger zweiter Klasse. Wir fühlen uns degradiert.“
Diese Meinung teilt auch Issa Coulibaly, Vorsitzender von Pazapas-Belleville. Das Erleben von Identitätskontrollen, oft von Kindheit an, rufe „ein Gefühl des Nicht-Dazugehörens“ hervor. Ergebnis sei ein Rückzug aus der Mehrheitsgesellschaft – also genau das, was von Regierung und Staatspräsident so gefürchtet werde.
Doch obwohl das Problem „einhellig anerkannt und verurteilt wird, unternimmt der Staat wenig oder nichts“ dagegen, kritisiert der Anwalt Lyon-Caen. „Keine der Strukturreformen, die NGOs seit Jahren fordern, wurde umgesetzt,“ fügt Bénédicte Jeannerod von Human Rights Watch hinzu.
„Es geht nicht darum, Polizisten zu beschuldigen, rassistisch zu sein,“ betont Lyon-Caen. „Es geht vielmehr darum zu sagen, dass das System selbst, durch seine Regeln, seine Kultur, seine Gewohnheiten, eine diskriminierende Praxis erzeugt hat. Wir müssen also diejenigen Elemente angreifen, die zu dieser Diskriminierung geführt haben.“
Ziel der NGOs sei in jedem Fall „die Wiederherstellung einer vertrauensvollen Verbindung zwischen der Polizei und der Bevölkerung.“
Deshalb erinnern die beteiligten NGOs auf 145 Seiten die Regierung an ihre Verpflichtungen und Versäumnisse und schlagen konkrete Maßnahmen zur Abschaffung diskriminierender Personenkontrollen vor.
Darunter: eine Verpflichtung zur Transparenz über die durchgeführten Kontrollen mit der Einführung eines Registrierungs- und Rückverfolgbarkeitssystems. Denn, wie Omer Mas Capitolin erklärt, gebe es bisher keinerlei Dokumente, die einen Nachweis über Identitätsprüfungen erbringen. Um jedoch sicherzustellen, dass Menschen, die sich in dieser Hinsicht diskriminiert fühlen, Zugang zu ihrem Recht haben, sei die Rückverfolgbarkeit der Kontrollen von wesentlicher Bedeutung.
Die NGOs fordern weiter die Einrichtung eines „unabhängigen, effektiven und zugänglichen Beschwerdemechanismus.“
Die erste Phase der Gruppenklage, das Aufforderungsschreiben, gibt der Regierung nun vier Monate Zeit zu reagieren und Initiativen zu ergreifen. Wenn die NGOs nach Ablauf dieser Frist die Antwort für unzureichend halten, können sie die Angelegenheit einem Gericht vorlegen. Dieses kann dann entscheiden, „Maßnahmen zu ergreifen, die die Regierung nicht von sich aus ergriffen hat“, erklärt der Anwalt Lyon-Caen. Alternativ kann vom Gericht eine Aussprache zwischen den Konfliktparteien angeordnet werden, um gemeinsam konstruktive Lösungen zu finden.
Die sechs NGOs zeigen sich optimistisch: Mit ihrem „extrem soliden Dossier“, so Cécile Coudriou von Amnesty International, hoffe man nun, eine echte Transformation des Identitätskontrollsystems auslösen zu können. Sammelklagen scheinen einen wichtigen Hebel für „tiefgreifende Veränderungen durch das Gesetz“ darzustellen, hofft auch Lyon-Caen.
Ob damit die „Plage“ Racial Profiling in Frankreich tatsächlich bald der Vergangenheit angehört ist indes freilich offen.